Die Angst vor dem kompetenten Kind
Ich habe die Tage in den Stuttgarter Nachrichten einen Artikel gelesen, der mich von Zeile zu Zeile wütender werden ließ.
Es ging um das Thema, ob das offene Konzept in der Kita in der heutigen Zeit noch tragfähig ist oder ob man nicht doch lieber wieder in das Gruppenkonzept zurückkehren sollte. Generell wurde die Frage gestellt, ob die Ansätze der Reformpädagogik den heutigen Kindern noch entsprächen, denn: es würde immer mehr herausforderndes Verhalten festgestellt.
Stellt sich für mich die Frage: was sind herausfordernde Kinder und wie lautet die Antwort? Die Stadt Stuttgart hat eine Antwort. Die Stadt, die sich offen dazu bekennt, den Fachkräftemangel nicht frühzeitig erkannt zu haben, die auf Hilfskräfte ohne fundierter pädagogischer Qualifikation setzt und in vielen Kitas zu kürzeren Öffnungszeiten zurückkehren möchte, um dem Platzbedarf in Kitas abdecken zu können, meint eine Antwort zu haben. Wir sprechen also von der Stadt, die keine innovativen Ideen hat und ihr Geld lieber in Bahnhöfe als in die Zukunft unserer Kinder steckt. Diese Stadt möchte auf eine Pädagogik zurückgreifen, die vor vielen Jahren bewusst verändert wurde.
Stuttgart, die Stadt in der ich lebe, arbeite und in der auch mein eigenes Kind in den Kindergarten geht, möchte wieder zurück in die Gruppenstruktur. So der Zeitungsartikel.
Die Gründe hierfür lesen sich wie eine Aneinanderreihung eines Bullshit Bingos, wenn es um moderne, bedürfnisorientierte Pädagogik geht:
- Die Kinder wären zu herausfordernd und bräuchten eine engere Begleitung.
- Im offenen Konzept entscheiden sich die Kinder oft nur für ein einziges Interessengebiet, sie dürfen grundsätzlich zu viel entscheiden
- Die Kinder hätten Defizite, die niemanden auffallen und
- mein Lieblingsargument, lautet: Die Kinder werden nicht ausreichend auf die Schule vorbereitet, in der sie ja auch nach Stundenplan funktionieren müssen
Das offene Konzept ist nicht für jedes Kind geeignet. Das ist ein Waldkindergarten oder eine Musikkita aber auch nicht. Für die meisten Kinder bietet das offenen Konzept eine Vielzahl von Möglichkeiten, sich ausprobieren zu dürfen und selbständige Entscheidungen treffen zu dürfen. Sie können ihre Freundschaften und somit eigenständig gewählte Kleingruppen selbst auswählen und in den jeweiligen Bildungsbereichen ihren Interessen nachgehen.
Und ja, das offene Konzept lebt davon, dass die pädagogischen Fachkräfte ihre Arbeit anders definieren als noch die klassische Gruppenerzieheri:in. Sie geben wenig Vorgaben, orientieren sich an den Kindern und deren Interessen, greifen diese auf und geben neue Impulse. Sie begegnen Kinder auf Augenhöhe und sind Wegbegleiter:innen. Dazu gehört, sich innerhalb des Teams gut auszutauschen und viel zu kommunizieren. Das Selbstverständnis einer pädagogischen Fachkraft muss sich verändern und das erfordert ein hohes Maß an Selbstreflektion und Flexibilität. Es gilt, nicht nur eine Gruppe, sondern alle Kinder eines Kindergartens im Blick zu behalten. Das ist herausfordernd, das muss sich entwickeln. Nicht die Fachkraft bestimmt mehr das Tagesgeschehen, sondern die Interessen der Kinder. Sie sind die Baumeister ihres sozialen Umfeldes, sie entscheiden, was sie machen möchten, sie entscheiden, mit wem sie ihre Zeit verbringen. Das bedeutet ein Umdenken des pädagogischen Auftrages. Es bedeutet ein absolutes ernst nehmen der kindlichen Bedürfnisse. Es bedeutet, Kindern zuzutrauen, ihre Lebenswelt in einem gewissen Rahmen selbst bestimmen zu können.
Die Angst, dass während dieses Prozesses Kinder auf der Strecke bleiben, also nicht gesehen werden, kann ich verstehen. In der Praxis jedoch und in einem gut funktionierendem Team passiert das gerade nicht, da viele Fachkräfte einen Blick aufs Kind haben und das Kind in vielen unterschiedlichen Situationen am Tag erleben können. Entwicklungsverzögerungen können so aus mehreren Blickwinkeln eingeschätzt werden.
Das Kind wird also gesehen und darf sich frei und selbständig in der Kita bewegen. Es darf sich zu einem kompetenten Kind entwickeln und das: macht Angst.
Kompetente Kinder scheinen Angst zu machen.
Sie sind nicht so kontrollierbar und steuerbar.
Sie sind nicht in ein Standardkorsett pressbar, um den Alltag in einer Kita oder später in der Schule leichter zu machen. Für die Lehrer:innen.
Kompetente Kinder werden schnell als “herausfordernd” abgestempelt, weil sie widersprechen. Eine eigene Meinung haben, die von der eigenen abweichen kann. Sich eigene Gedanken machen und diese auch vertreten. Ihren Selbstwert kennen, sich ihrer Selbst bewusst sind und Entscheidungen von Erwachsenen in Frage stellen. Nicht blind Anweisungen folgen, sondern hinterfragen. Auf sich achten und ihre Bedürfnisse kennen.
Das kann herausfordernd sein. Aber nicht das Kind ist herausfordernd oder schwierig, sondern der Schritt aus der eigenen Komfortzone, diese Kinder auf Augenhöhe zu begleiten.
Kinder loszulassen und ihren zu vertrauen anstatt sie zu beherrschen fordert.
Eltern, Fachkräfte in Kitas und an Schulen.
Aber gerade in einer sich immer schneller drehenden Welt, einer Welt voller Fake News und emotionaler Kälte braucht es Menschen, die sich hinstellen können, sich positionieren und ihre eigenen Meinung vertreten können. Die gelernt haben, auf sich und ihre Bedürfnisse zu achten, weil sie wissen, wie wichtig das für die eigene Gesundheit ist. Gleichzeitig aber in der Lage sind, die Bedürfnisse und Grenzen anderer zu achten, weil sie es selbst von Kindheit an erlebt haben. Menschen, die hinterfragen, selbständig Lösungen finden können und sich geliebt um ihrer selbst willen fühlen. Menschen, die kompetent ihren Lebensweg gehen. Das, was wir doch für unsere Kinder wünschen, oder nicht?
Was machen wir also als Institution?
A) Kinder kompetent begleiten und Rahmenbedingungen dafür schaffen oder
B) Kinder wieder zurück in eine alte Pädagogik pressen?
Meine Antwort ist ziemlich klar: Eine Rückkehr in ein altes System würde auch wieder eine Rückkehr in eine alte Pädagogik bedeuten. Eine Pädagogik, in der die Kinder in einer sehr adultistisch geprägten Welt leben. In der sie funktionieren und sich permanent anpassen müssen.
Das kann niemand ernsthaft wollen. Kinder müssen nicht funktionieren, gehorchen, einem Bild entsprechen, dass Erwachsene gerne hätten. Sie müssen nicht zu sozialen Wesen erzogen werden, sie SIND soziale Wesen. Sie lernen Regeln und Werte durch unser Vorbild. Und wachsen, indem sie sich frei entfalten dürfen.
Natürlich ist nicht jedes Gruppensystem grundsätzlich schlecht. Auch in geschlossenen Konzepten finden sich viele kompetente und einfühlsame Fachkräfte. Gerade in der Krippe bietet eine kleine Gruppe einen Schutz und Geborgenheit und selbst da darf man Kindern vieles zutrauen.
In meinen Augen jedoch widerspricht dieses Gefüge im Kindergarten dem Kern einer modernen, bedürfnisorientierten Pädagogik, denn je freier sich die Kinder bewegen dürfen, desto freier können sie auch ihre Persönlichkeit entwickeln.
Dazu gehört auch, an Grenzen zu stoßen, dazu gehört auch, Frustrationen auszuhalten, Konflikte zu lösen, sich selbst zu finden. Und auch im offenen Konzept gibt es eine Führung durch die Fachkräfte. Diese jedoch geschieht klar, achtsam und in Beziehung mit dem Kind.
Das offene Konzept fördert die Entwicklung zum kompetenten Kind.
Aber das scheint nicht jedem zu gefallen. Spätestens wenn es in Richtung Schule geht, wird die Kritik lauter: wie wird sich ein Kitakind aus dem offenen Konzept einfügen können?
Meine emotionale Antwort aus dem Bauch heraus: bitte gar nicht! Lasst die kompetenten Kinder aus der Kita doch weiterhin selbstbewusst, eigenständig und an ihren Bedürfnissen orientiert lernen und sich weiterentwickeln. Sie können trotzdem emphatische, hilfsbereite und respektvolle Kinder sein. Bitte brecht nicht ihre intrinsische Motivation zum Lernen, indem ihr sie vor starre Stundenpläne setzt und ihnen im immer noch vorherrschenden Frontalunterricht Wissen eintrichtert. Schule mit ihren Ansätzen aus längst verstaubter pädagogischer Zeit steht seit langem auf dem Prüfstand.
Ich stelle also eine andere Frage: warum muss sich ein kompetentes Kind einfügen, warum muss sich die Kita zurück entwickeln, warum fangen wir nicht endlich an, Schule neu zu denken? Es gibt mittlerweile so viele tolle Ansätze. Ansätze, wie ein Kind auch in der Schule weiterhin Forscher und Entdecker sein darf, wie es selbstbestimmt bleiben darf und wie es an den Interessen orientiert lernen darf. Nicht die Kita muss sich neu definieren, die Schule muss endlich umdenken! Und mit ihr unsere Gesellschaft, die in vielen Teilen nicht kinderfreundlich denkt.
Als Pädagogin, die sich schon sehr lange für eine bedürfnisorientierte Begleitung von Kindern stark macht, werde ich weiterhin aufklären, eine Stimme für Kinder sein und alles dafür tun, um Kindern einen geschützten Rahmen zu bieten, in dem sie sich ausprobieren und stark werden können.
Als Mutter und als Elternbeirätin werde ich aktiv gegen die Pläne der Stadt Stuttgart vorgehen, so sie wirklich umgesetzt werden, denn ich möchte, dass mein Kind weiterhin im offenen Konzept betreut wird. Dabei geht es um Haltung.
Ich möchte keine feste Gruppeneinteilung für sie, die sie nicht selbst gewählt hat. Ich möchte, dass sie sich weiterhin frei entwickeln kann und in ihrer Entscheidung ernst genommen wird. Ich fordere, dass die Stadt Stuttgart ihrer Verantwortung gerecht wird und ein Konzept in der Kinderbetreuung entwickelt, dass den Standards der modernen Pädagogik entspricht. Für mein Kind, für alle Kinder.
Ich möchte, dass sich mein kompetentes Kind weiterhin frei entwickeln darf.
Aber warten wir es ab. Die Stadt Stuttgart steht in diesem Artikel für alle, die nicht verstehen wollen, wie wichtig es ist, dass Kinder eine Stimme haben und ihre Lebenswelt aktiv mitgestalten wollen.
Ich bin mir sehr sicher, dass kein einziges Kind in Stuttgart gefragt wurde, ob es denn gerne in ein Gruppensystem zurückkehren möchte.
Kompetente Kinder sind nicht anstrengend. Anstrengend sind die Rahmenbedingungen, in denen sie sich häufig bewegen, weil sie eines oft nicht sind: kindgerecht.
Vielen Dank fürs Lesen.
2 Comments
Ruth
Guten Morgen,
ich glaube, die Diskussion geht am eigentlichen Thema vorbei.
Vorab: ich bin absolute Verfechterin von bedürfnisorientierter Pädagogik in der Kita und kämpfe jeden Tag dafür.
Aber ich glaube, dass das nichts damit zu tun hat, ob eine Kita offen, teiloffen oder “geschlossen” arbeitet.
1. So wie im Text auch geschrieben, ist das offene Konzept nicht für jedes Kind etwas. Es gibt Teams und Sozialräume, für die ein Konzept mit festen Stammgruppen genaus das richtige ist und die in dieser Situation nötige Sicherheit und Verlässlichkeit bietet. Deshalb fände ich es irritierend, wenn eine Stadt oder ein Träger alle Einrichtungen gleichmacht und alle gleich arbeiten müssen. Es werden ja auch nicht alle Kitas Waldkitas oder Musikkitas oder Kneippkitas.
2. Meiner Meinung und Erfahrung nach hängt es nicht vom Gruppenkonzept ab, ob eine Einrichtung bedürfnisorientiert und partizipativ mit den Kindern arbeitet. Ich kenne Kitas, die “geschlossen” arbeiten und zehn Mal partizipativer und auf Augenhöhe mit den Kindern umgehen, als einige offene Kitas (wobei man auch erstmal definieren müsste, ob wir eigentlich alle das gleiche meinen, wenn wir von “offen” und “geschlossen” reden….).
Deshalb: ich finde, dass die Diskussion am Thema vorbei geht. Der Schlüssel von allem ist doch (zumindest aus meiner täglichen Arbeit und in meinem Bundesland), dass die Kitas mit zu wenig Geld ausgestattet sind. Wir haben zu wenig Geld und Möglichkeit, unsere Fachkräfte gut auszubilden, sie mit Resilienz auszustatten und im Alltags zu begeiten und zu unterstützen. Wir haben zu wenig Geld, um die Räume in den Einrichtungen so auszustatten, dass Bildungsarbeit mit allen Kindern möglich ist. Wir haben zu wenig Geld, um die Kinder zu begleiten und sozial teilhaben zu lassen, deren Verhalten schwer verstehbar ist und die mehr Zuwendung und Aufmerksamkeit benötigen.
Es fehlt an allen Ecken und Enden und das System ist vor die Wand gefahren.
Da kommt eine Diskussion, die vermeintlich eindeutig und klar ist sehr gelegen: dadurch wird aber nur das eigentliche Problem verschleiert und in den Hintergrund gerückt.
Das System Kita muss anders aufgestellt und priorisiert werden. Den Problemen der Stadt Stuttgart mit ihren Kitas wird man nicht begegnen und sie schon gar nicht lösen, indem man unüberlegt Gruppenkonzepte umstellt, Kitas gleich macht und eben nicht indidviuell schaut. In beide Richtungen nicht.
Einen lieben Gruß und einen schönen Sonntag aus einem anderen Bundesland 😉
Barbara
Liebe Ruth,
vielen Dank für deinen differenzierten und sachlichen Blick. Ich stimme dir grundsätzlich in allem zu – nur bleibt mein Ärger auf die Stadt Stuttgart, die ihre Probleme, die sie auf so vielen Ebenen hat (und die auch andere Städte / Träger haben) mit der Rückkehr ins geschlossene System beantworten möchte.
Ja, es gibt tolle Einrichtungen, die geschlossen arbeiten. Ja, es gibt katasthrophale, die offen arbeiten. Und ja – Personal fehlt überall, egal welches Konzept angeboten wird.
Am Ende steht und fällt es mit den Personen, die ein Konzept leben. Und trotzdem bin ich der Meinung, dass tendentiell ein offenes Konzept der Eigenständigkeit von Kindern am nächsten kommt. Offen bedeutet ja nicht, dass es keine Regeln oder Strukturen gibt. Es gibt auch Gruppen – nur werden diese von den Kindern entweder selbst gewählt (Freundesgruppen), oder sie sind temporär und binden Kinder nicht in diesem Konstrukt.
Ausgangslage meines Beitrages war die Aussage in dem Artikel der Stuttgarter Nachrichten: man befürworte ein geschlossenes Gruppensystem, um die “herausfordernden Kinder” besser in den Griff zu bekommen. Gut, in den Griff zu bekommen habe ich jetzt so interpretiert, aber genauso liest sich der Artikel, Und das halte ich für falsch und für eine Rückkehr in eine alte Zeit, in der – und Achtung, jetzt werde ich sicher auch ein Stück polemisch – Tante Gudrun mit den Kindern am Montag um 10:00 Uhr Fensterbilder bastelt und am Donnerstag Turnstunde ist.
Die Wahrheit wird dazwischen liegen. Ich kenne beide Systeme sehr gut und erlebe im Gruppensystem deutlich mehr Adultismus als im offenen Konzept. Das mag natürlich nicht immer und überall sein.
Als Trägerin sollte die Stadt Stuttgart ein einheitliches Konzept fahren. Entscheidet sie sich, es unterschiedlich zu handhaben, dann hoffe ich, dass die Kita meiner Tochter offen bleibt.
Die Probleme, die wir in den Kitas haben, existieren weiter. Aber darum geht es in meinem Artikel nicht. Das wäre vielleicht mal ein weiterer Blogbeitrag – immerhin haben wir hier in Stuttgart die Initiative Kitastrophe, die sich damit gut und kompetent beschäftigt.
Liebe Grüße und danke für den Austausch,
Barbara